Multiple Sklerose (MS) ist eine von vielen Entmarkungskrankheiten, die das Zentralnervensystem (ZNS) – Gehirn und Rückenmark – schädigen. Nerven sind von einer schützenden fetthaltigen Substanz namens Myelin umgeben, ähnlich wie elektrische Drähte von einem Kabel. Dem Myelin verdanken es die Nerven, dass sie Signale schnell weiterleiten können. Dank der Geschwindigkeit und Genauigkeit, mit der solche Signale (auch Impulse) übermittelt werden, sind koordinierte, weit gehend unbewusst ablaufende Bewegungen möglich. Bei MS wird das Myelin zunehmend abgebaut – dieser Myelinabbau geht mit dem Verlust der Fähigkeit einher, solche Bewegungen auszuführen. Die Stellen, an denen Myelin zerfällt, verhärten sich und sehen sklerotisch (narbig) aus, und weil es im ZNS meist viele solcher Stellen gibt, ist der Begriff Multiple Sklerose (>Vielnarbigkeit<) zutreffend.
Wir wissen, dass neben dem Gehirn und dem Rückenmark auch der Nerv – Axon genannt – von der MS betroffen ist. Neuere Studien belegen noch drastischer, was seit Hunderten von Jahren bekannt ist: dass das Axon bei MS degenerieren (also verkümmern) kann. Diese Degeneration kann zu dauerhaften Schäden führen, und sie ist schlimmer als der Myelinabbau allein. Das Gehirn arbeitet in gewisser Weise wie ein großer Computer oder ein elektrisches System, das Botschaften durch Nerven weiterleitet. Nerven gleichen Drähten. Wir beschließen, den rechten Arm zu bewegen, und er tut es. Myelin macht dieses erstaunliche System effektiv. Um das genauer zu verstehen, müssen wir mehr über den Aufbau (die Anatomie) des Nervensystems wissen.
Das menschliche Nervensystem besteht aus drei Teilen, die sich ziemlich gut abgrenzen lassen: Aus dem Zentralnervensystem, das dem Prozessor eines Computers ähnelt, aus dem peripheren Nervensystem (PNS), welches das ZNS mit den Muskeln verbindet und aus dem autonomen Nervensystem, welches das ZNS mit den inneren Organen verbindet. Das ZNS hat zwei Hauptteile, das Gehirn und das Rückenmark. Beide bestehen ihrerseits aus Teilen, deren besondere Aufgabe die Steuerung der Körperfunktionen ist.
Der Gehirnteil, den man Cerebrum nennt, ist die Steuerzentrale, die Gedanken und Bewegungen hervorbringt. Gedächtnis, Persönlichkeit, Sehvermögen, Gehör, Tastsinn und Muskeltonus wird vom Cerebrum ermöglicht bzw. bestimmt. Dahinter befindet sich das Kleinhirn (Cerebellum), das Bewegungen koordiniert und die „Feinsteuerung“ der Muskeltätigkeit übernimmt. Wenn diese Gehirnregion ungestört arbeitet, können Sie gehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und Hände und Arme ohne Probleme benutzen.
Unter dem Cerebrum und dem Kleinhirn liegt der Hirnstamm. Er enthält Nerven, welche die Bewegungen der Augen steuern, und wichtige Zentren, die an Funktionen wie Atmung und Herzfrequenz beteiligt sind. Vom Hirnstamm nach unten erstreckt sich das Rückenmark, das ganz ähnlich wie eine dicke elektrische Leitung arbeitet, denn es übermittelt Botschaften zwischen den Hirnzentren und den andere Körperteilen.
Die Aufgabe des Myelins:
Obwohl im Gehirn und im Rückenmark zahlreiche biochemische Reaktionen ablaufen, besteht ihre Hauptaufgabe darin, elektrische Signale auszulösen, die verschiedene Körperfunktionen anregen und steuern. Diese Botschaften werden sehr effizient und effektiv an ihre Ziele übermittelt, denn das gesamte System wird gut vom Myelin isoliert und geschützt, das die Nerven umhüllt und gewährleistet, dass die elektrischen Impulse auf ihrem Weg durch die Nervenbahnen kaum Informationen verlieren. Das Myelin im Gehirn und im Rückenmark wird von einem spezifischen Zelltyp gebildet, den man Oligodendrozyt nennt. Sowohl Oligodendrozyten als auch Myelin sind bei dem MS geschädigt, und darunter leidet manchmal auch der Nerv unter dem Myelin (Axonschaden). Wenn das kranke Myelin hart und narbig wird, entsteht eine Plaque, die elektrische Impulse kurzschließen. Zu diesem Zeitpunkt verschwinden auch die Myelin bildenden Oligodendrozyten. Das periphere Nervensystem (PNS) ist für die Übertragung von elektrischen Impulsen zwischen Rückenmark und Muskeln einschließlich Arm- und Beinmuskeln – zuständig. Dieses System enthält ebenfalls Myelin, obwohl es aus einem anderen Zelltyp besteht, nämlich aus Zellen, die von MS offenbar nicht betroffen sind. Eine Schwäche der Arme oder Beine ist zwar bei MS nicht ungewöhnlich, aber das Problem liegt im zentralen Leitungssystem (Gehirn und Rückenmark), nicht in den peripheren Nerven, die vom Rückenmark ausgehen.
Das autonome Nervensystem hat zwei Teile: Sympathikus und Parasympathikus. Diese Systeme sind für automatische Funktionen zuständig, zum Beispiel für den Herzschlag, das Schwitzen usw. Beide enthalten ebenfalls Myelin, werden aber von der MS nicht unmittelbar betroffen.
Obwohl die Multiple Sklerose nur das ZNS direkt schädigt, hat die Krankheit indirekte Auswirkungen auf andere Systeme und deren Funktionen, da alle Teile des Nervensystems miteinander kommunizieren.
Symptome der Multiplen Sklerose:
Die typischen Merkmale der MS sind ein Beginn zwischen dem 15. und 50. Lebensjahr. Die Krankheit verläuft meist in Schüben (Besserungen und neues Aufflammen) und fast immer sind mehrere verstreute Bereiche in ZNS betroffen.
Da verschiedene Bereiche des Gehirns und des Rückenmarks für verschieden Bewegungen und Wahrnehmungen zuständig sind, hängen die Folgen einer vernarbten Stelle vom exakten Ort der Schädigung (Läsion) ab. Ist beispielsweise das Myelin an einer bestimmten Stelle im Kleinhirn geschädigt – also in dem Gehirnteil, die koordinierte Bewegungen ermöglicht -, wird eine Koordination schwierig. Da die Symptome davon abhängen, wo sich die Narbe im ZNS befindet, stimmen die Krankheitszeichen bei unterschiedlichen Patienten fast nie überein. Bei Kranken sind vielleicht der Gang und das Sehvermögen leicht gestört, während ein anderer unter dem vollständigen Verlust der Sinneswahrnehmung und der Beweglichkeit (Mobilität) leidet.
Die unterschiedliche Verläufe:
Um die individuellen Unterschiede besser zu verstehen und einen geeigneten Behandlungsplan aufstellen zu können, wird die MS oft in Gruppen eingeteilt. Die am meisten benutzte Klassifikation schließt folgende Krankheitsformen ein:
– Schubförmig = rezidivierend-remittierend Typisch für diese Form der MS sind klar unterscheidbare akute Schube, entweder mit völliger Genesung (Remission) oder mit bleibenden neurologischen Symptomen und einer gewissen Behinderung nach der Genesung. Zwischen den Rückfällen (Rezidiv oder Schub) verschlimmert die Krankheit sich nicht. Man nimmt an, das 80% der MS-Fälle so beginnen. Mit der Zeit kann der Krankheitsverlauf sich ändern; dann gehört der Patient in eine andere Kategorie. Bei etwa 50% der Kranken wird die MS nach dem Rückfall progredient. Dann nennt man sie:
– Sekundär-progredient Diese Krankheitsform beginnt zunächst schubförmig. Dann folgt eine Progression (Verschlimmerung) in unterschiedlichem Tempo, bisweilen mit gelegentlichen Rückfällen und kleineren Remissionen. In etwa 10% aller Fälle verschlimmert sich die MS sofort nach Beginn und heißt dann:
– Primär-progredient Hier verschlimmert sich die Krankheit von Anfang an, ohne Plateaus oder Remissionen oder nur mit gelegentlichen Plateaus und zeitweiligen kleineren Besserungen. Dieser Typ tritt häufiger bei Menschen auf, die nach dem 40. Lebensjahr erkranken. In etwa 5% aller Fälle beginnt die MS progredient und die Schwere der Symptome schwankt immer stärker. Dann heißt sie:
– Progressiv-rezidivierend Bei diesem MS-Typ setzt die Progression sofort ein, und zwar ohne klare, akute Rückfälle denen mitunter eine gewisse Besserung folgt
Zwei Punkte sind wichtig. Erstens: Mehr als zwei Drittel aller MS-Kranken können 20 Jahre nach der Diagnose noch gehen. Die Annahme, MS sei eine progressive Krankheit, die unweigerlich in den Rollstuhl führe, trifft also meist nicht zu. Zweitens: Selbst bei Patienten mit einer „progredienten“ MS verschlimmert sich die Krankheit ab einem bestimmten Punkt nicht mehr. Da viele MS-Experten das Progressionspotenzial der Krankheit so sehr fürchten, vergessen sie oft, dass die Krankheit nicht immer progressiv ist. Etwa 20% der MS-Kranken bleiben relativ stabil. Warum das so ist, wissen wir nicht, trotz langwieriger Studien über Ernährung, Lebensweise und andere Faktoren. Das bedeutet aber auch, dass rund 80% der Patienten eine intensivere Behandlung brauchen.